Argentiniens „High“-Ways
Argentiniens „High“-Ways

Argentiniens „High“-Ways

… sind wirklich hoch – sehr hoch. Sie sind aber auch ein großes Abenteuer und eine Herausforderung für Mensch und Maschine! Und was für eine, aber der Reihe nach:

Nach Chilecito reisen wir weiter nach Tinogasta, für uns ist Tinogasta wie beim letzten Trip ein idealer Ausgangspunkt für das was wir vorhaben und es ist wie damals ein schöner Ort um mal so richtig abzuhängen. Im (geschlossenen) Freibad von Monique und Carlos gibt es alles was das Overlander-Herz begehrt: flottes Wlan, saubere Banios, Aqua caliente, viel Platz, und verlässliche Informationen zum Zustand und den Bedingungen der umliegenden Bergregionen. Es gibt außerdem 4 Hunde die zunächst die Autos markieren und dann auf uns aufpassen und ein Lama mit Hängeohr. Was will man mehr. Wir bleiben eine Woche! Wir sortieren unseren Krempel im Obelix neu, er bekommt frisches Öl, ein Reifen muss geflickt werden, er wird gefettet und wir brauchen neues Gas. Dunja backt die ersten Semmeln (warum nur 5??), wir kochen abends vom feinsten, erholen uns von den Strapazen der ersten Wochen und bereiten die Touren vor die vor uns liegen.


Es gibt zwei Ziele: nochmal auf den Balcon de Pissis und nochmal der Versuch die alte Ruta Provincial 34 nach Antofagasta. Ersteres hatten wir bereits 2019 erreicht und ist auf Dunja’s Hitliste ganz weit oben. Letzteres ist uns beim letzten Mal nicht geglückt, weil die Strecke nicht, bzw. nicht ohne unkalkulierbare Schwierigkeiten zu bewältigen war. Spoiler: diesmal hat es geklappt!

Warum klingt das so aufgeregt? Erstens werden wir uns tagelang jenseits der 4.000 m üNN aufhalten, zweitens in seeehr abgelegenen und unzugänglichen Regionen unterwegs sein und drittens „eigentlich“ zur falschen Jahreszeit dort sein. Viertens könnte man noch erwähnen, dass alles in dieser Höhe gerade meinen (und Obelix‘) durchtrainierten Körper zu Höchstleistungen herausfordert, die ich üblicherweise vermeide.

Start Tinogasta – Balcon de Pissis 21.09.22: Gemeinsam mit Reni+Marcel steigen wir auf knapp über 3.000 m üNN auf und nehmen im Vorbeifahren noch eine Wanderung in einen kleinen Canyon mit – nichts spektakuläres, aber gut für den Biorhythmus. Bevor es morgen auf den „Balkon“ geht übernachten wir im Windschatten eines Refugios. Wettertechnisch schon ein kleiner Vorgeschmack auf die nächsten Tage: Wolkenloser Himmel, nachts leichte Minusgrade und: Dauersturm. Draußen kann man sich im Prinzip nicht aufhalten. Die erfahrenen Höhenkletterer unter euch wissen, was unter „Windchill“ zu verstehen ist und kennen den Zusammenhang zwischen Temperatur und Windgeschwindigkeit. Für uns heißt es einfach: wir warten im Auto bis wir müde sind und lassen uns dann vom Sturm in den Schlaf schaukeln, Reni+ Marcel in ihrem Taku und wir im Obelix bei geschlossenem Dach.

22.09.22, 6:00 Uhr: Auffahrt zum Balcon de Pissis: bei Sonnenaufgang geht es los. Das Frühstück ist so karg wie die Landschaft und wir fahren zügig nach oben. Das Morgenlicht und die Ausblicke sind i.V. mit der dünnen Luft atemberaubend. 90 km weiter und 1.700 m höher stehen wir auf dem „Balkon“ und sind wie beim ersten Mal überwältigt von der Szenerie. Es ist nicht zu beschreiben und die Bilder zeigen nicht wie es ist, trotzdem ein Versuch:

Wir sind früh dran und eigentlich geht es von hier weiter auf den Vulcan de Pissis: let’s try. Es folgt ein Schneefeld, das uns den Weg versperrt und wir entscheiden uns für eine Umfahrung in der Fall-Linie durch das lockere Geröll – was für eine dämliche Idee. Es geht einfach nicht weiter hinter dem nächsten Hügel und den Hang zurück nach oben auch nicht, die Autos rutschen seitlich den Hang hinunter und mit den Autos kippt auch die Stimmung. Als Ausweg bleibt das Schneefeld und Marcel wagt den ersten Versuch und wühlt sich durch bis der Wagen komplett aufsitzt. Jetzt heißt es schaufeln und eispickeln. Ich mach es kurz: nach 2 Stunden Arbeit ist der erste Wagen wieder dort wo wir gestartet sind und zumindest ich komplett am Ende! Ich wollte früher schon nicht die Garageneinfahrt schippen, weil es so anstrengend ist, aber in 4.700 m Höhe kommen noch Kopf- und Gliederschmerzen dazu, die ich bisher nicht kannte. Noch flux mit dem Obelix durch die frisch gespurte Loipe gerumpelt und dann: Abstieg!


23.09.2022, Fiambala. Abfahrt nach Antofogasta de la Sierra:

Nach den gestrigen Erfahrungen wissen wir: schlimmer geht nimmer. Wir sind gewarnt vor Kälte und Sturm. Ergänzend warnt man uns vor unzähligen Flussdurchquerungen und Sandstürmen dort oben, die die Orientierung einschränken und die Fahrspuren verschwinden lassen. Natürlich warnt man uns auch vor der Höhenkrankheit. Beim letzten Mal kamen wir gar nicht so weit, der Fluss hatte zu viel Wasser. Reni zählt mit: nach 80 Flussdurchfahrten erreichen wir unser Nachtlager auf etwa 4.000 m üNN und genießen wieder eine Schaukelpartie im Nachtsturm.

Ich versuche nochmal eine praktische Beschreibung dessen, was wir mit Sturm meinen: steht man z.B. mit der Fahrzeugschnauze im Wind kommt man nicht aus dem Auto, weil die Tür nicht aufgeht, steht man anders herum reißt einen die Autotür aus den Sitzen. Unabhängig davon darf man im Übrigen immer nur eine Tür und niemals beide gleichzeitig öffnen, da sonst der Sturm durchs Cockpit fegt und alles was nicht angebunden ist das Fahrzeug auf Nimmerwiedersehen verlässt – das üben wir noch! Manchmal muss es eben schnell gehen, aber selbst die primitiven menschlichen Bedürfnisse werden zur Herausforderung: jeder der erklären kann, warum an Kombis an der Heckscheibe Scheibenwischer verbaut werden weiß, dass man hier oben auch nicht „mit“ dem Wind pinkeln sollte.

Zurück zur Tour: Unser Weg führt uns durch die – schon wieder – unbeschreibliche Landschaft der Puna. Wir sind nicht allein, seit gestern begegnen wir immer wieder einer Gruppe Motorradfahrer die wir nicht beneiden. Was für uns wahlweise durch Heizung oder Klimaanlage regelbar ist, ist für die Jungs ein echter Kampf gegen die Natur. In den sandigen Abschnitten landen die Kollegen immer wieder auf dem Boden, schnappen nach Luft und füllen Helme, Schuhe und ihre Klamotten mit feinstem Sand. An einer Auffahrt über einen Bergrücken liegen Sie uns schließlich so im Weg, dass wir stoppen müssen. Draußen tobt der Sturm und schüttet langsam aber sicher die Fahrspur immer weiter zu. Als wir endlich weiter können geht nichts mehr, wir stehen am Hang und stecken im Sand fest: eine Stunde schaufeln, mit Hilfe der Sandbleche und der Seilwinde kommen wir wieder raus aus dem Schlamassel und mir brummt wieder der Schädel. Aber: wir erreichen Piedra de Pomez, eine bizarre Gesteinslandschaft in der die Bimssteinfelsen vom ewigen sandstrahlen groteske Formen angenommen haben: wunderschön! Reni und Marcel bleiben dort über Nacht um im Sonnenunter- und -aufgang Fotos zu schießen. Wir fahren in das Bergdörfchen El Penoñ und wollen im Windschatten einer Hosteria übernachten. Es geht nicht und wir entscheiden uns zum zweiten Mal nach 288 Tagen in Südamerika ein Zimmer zu nehmen. Es ist nicht das wofür man in Deutschland etwas bezahlen würde, aber dort knistert ein Feuer im Kamin und es ist windstill – Kunststück: das Zimmer hat keine Fenster.


Argentiniens „High“-Way’s

3 Kommentare

  1. Heide

    Hallo,Ihr Lieben,
    Abenteuer, Gänseheaut und Sturmgetöse pur, Dazu viel schweißtreibende Arbeit in bitterster Kälte- so stellt man sich seinen Traumurlaub vor. Wie gut, dass Ihr erfahrene Leidens-und Freudenbegleiter habt. Denn, wie zu sehen war:schlimmer geht immer.Habt Ihr vom Zimmer ein paar Tierchen mitgebracht? Besser gemeinsam als einsam.
    Toller Bericht, danke. Wir wünschen eine spannende Weiterfahrt, leiden mit Obelix und hoffen, dass Ihr gesund bleibt.
    Grüßt auch Eure Mitfahrer, in deren Blog ich mich mit Freude einlese. Alles Liebe von Heide

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